Al canto del cucù (von Holger Wilmesmeier)

Claire kann Italienisch! Da waren Anna und ich sehr erstaunt. Claire, Annas Nichte, saß mit uns im Auto. Wir machten einen Ausflug. Plötzlich begann sie zu singen: „L’inverno è passato l’aprile non c’è più, è ritornato il maggio al canto del cucù …“ Ihre Stimme war hell und klar. Und man merkte, dass sie Freude an dem Lied hatte. Ihre Lust zu singen war ansteckend und schon bald sangen wir mit. Claire war damals in dem Alter, wo man noch im Hopserlauf auf dem Bürgersteig herumhüpft, ohne vorher groß darüber zu grübeln, ob das vielleicht zu kindisch aussieht und sich nichts dabei denkt, einfach aus Spaß ein Lied zu singen. Natürlich konnte sie nicht richtig Italienisch, aber immerhin verstand sie wohl einige Brocken von dem, was sie da sang.
Als ich dann viel später anfing Jane Chatterton zu schreiben, erinnerte ich mich an das Lied, und ich dachte: Das Lied muss rein! Leser des Buches erinnern sich vielleicht: Jane lernt das Lied von ihrer geliebten Gouvernante Elena. Es taucht leitmotivisch an drei Stellen auf: als Jane zur Frühjahrszeit zusammen mit ihren Künstlerfreunden vor deren Stammlokal draußen in der Sonne sitzt, dann beim Treffen mit ihrer Mutter als im Hintergrund ein Kindermädchen das Lied singt, und schließlich als eine verzeifelte Jane sich mit dem Lied in den Schlaf zu singen versucht.
Eigentlich stammt das muntere Frühlingslied aus dem Tessin. Der Name des Lieds wird allerdings nicht einheitlich gehandhabt: Mal heißt es „Il (oder „al“) canto del cucù“ (dies ist wohl der ursprüngliche Name), ein anderes Mal wird es „L’inverno è passato“ betitelt.
Der Komponist des Liedes, Leo Kok wurde als Lion Andries Kok am 24.11.1893 in Amsterdam geboren und starb 1992 in Ascona. Er war Pianist, Komponist und Buchhändler bzw. Antiquar. Er bewegte sich, wie Paolo in Jane Chatterton, in Bohèmekreisen und war politisch aktiv, dem Anarchismus zugeneigt. Leo Kok studierte am Königlichen Konservatorium in Den Haag Musik. Neben seiner Tätigkeit als Komponist hat Kok vor allem Tänzer am Klavier begleitet, darunter die Ausdruckstänzerin Charlotte Bara. In den 1920er Jahren traten die beiden in Baras „Teatro San Materno“ auf, eine der ersten Kulturadressen Asconas. Dort traf sich auch die legendäre Bohème des Monte Verità. In diese Zeit fällt die Komposition des Liedes „Il canto del cucù“. Er schrieb es für das alljährlich in Locarno gefeierte „Kamelienfest“.
Daneben war Leo Kok begeistert vom Boxkampfsport. Als überzeugter Pazifist verweigerte er im Ersten Weltkrieg den Kriegsdienst und wurde interniert. Später kämpfte er im Spanischen Bürgerkrieg und in der französischen Résistance. Die Gestapo kam ihm auf die Spur. Bei einer Durchsuchung seiner Pariser Wohnung fand man Résistance-Dokumente. Kok hatte sie in seinem Klavier versteckt. Er wurde verhaftet, gefoltert und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Er überlebte und kehrte nach Ascona zurück. Dort eröffnete er ein Antiquariat, die „Libreria della Rondine“. Schon bald wurde dieser Ort zu einem Treffpunkt für internationale Kulturschaffende, darunter Schriftsteller wie Erich Maria Remarque. Koks Karriere als Pianist allerdings war beendet. Bei der Folter hatte ihm die Gestapo so starke Verletzungen an den Händen beigebracht, dass er nicht mehr auftreten konnte. Aber er komponierte, vor allem für das Marionettentheater von Jacob Flash in Ascona. Am 7. August 1992 starb Leo Kok in Ascona. Seine Asche wurde nach Paris gebracht und in die Seine gestreut.
Neben „Il canto del cucù“ kommen noch zwei andere volkstümliche Lieder in Jane Chatterton vor: „Now is the month of maying“ von Thomas Morley (um 1595) und „Au clair de la lune“, das aus dem 18. Jahrhundert stammt und in einigen Quellen Jean-Baptiste Lully (1632–1687) zugeschrieben wird, was jedoch nicht belegt ist. Alle drei Lieder kommen wie „unschuldige“ Kinderlieder daher, sind aber eigentlich sehr zweideutig…
Claire hatte sicher nicht die leiseste Ahnung, was für ein frivoles Kuckucksei man ihr da untergeschoben hatte. Bei Jane bin ich mir da nicht so sicher.

Mehr über Leo Kok:
Kurzdoku „Leo Kok (Amsterdam, 1893 – Ascona, 1992)“ auf Vimeo
Audio von Xaver Frühbeis auf BR-Klassik
Weitere Informationen auf dieser Seite über jüdische Musiker

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